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Viel output mit wenig input? Zur Rolle von bürgerschaftlichem Engagement im Bundestagswahlprogramm 2009 von Bündnis 90/ Die Grünen

Cover des Bundestagswahlprogramms 2009 von Bündnis 90/ Die Grünen.

4. April 2011
Adalbert Evers
Von Adalbert Evers

Das Programm von Bündnis 90/ Die Grünen fordert und verspricht viel – nämlich einen „neuen Gesellschaftsvertrag“; er „verbindet ökologische Fairness und eine Politik der Teilhabe und der sozialen Sicherheit, die allen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und ihnen neue Chancen der Entfaltung gibt. Der neue Gesellschaftsvertrag will mehr Demokratie und weniger Lobbyismus und er bezieht dabei alle ein, die Verantwortung tragen: Staat, Unternehmen und Gewerkschaften, Verbände und die Bürgergesellschaft“ (S. 14). Das alles klingt viel versprechend. Insbesondere für diejenigen, die im BBE engagiert sind, stellt sich die Frage, wie diese Einbeziehung der Bürgergesellschaft aussehen soll.

Im Programm ist nach dem gerade zitierten fulminanten Eingangsstatement aber eigentlich von der Bürgergesellschaft kaum mehr die Rede. Der gesamte Programmansatz bezieht sich in erster Linie auf den einzelnen Bürger und die Bürgerin. Und insoweit die angesprochen werden, geht es in erster Linie um die Verteidigung, Bekräftigung und Ausweitung von Bürgerrechten.

Das dritte der vierzehn Kapitel handelt von der Stärkung sozialer Bürgerrechte; im darauf folgenden Kapitel geht es um soziale Rechte im Bildungsbereich, bei Kindern und alten Menschen und im sechsten Kapitel um Verbraucherrechte. Neben diesem breiten Panorama sozialer Rechte, von der Grundsicherung bis hin zu Minderheitenrechten, kommen auch die beiden anderen Dimensionen der klassischen Trias von Bürgerrechten nicht zu kurz - die persönlichen Rechte des Schutzes gegenüber staatlichen Eingriffen (u. a.: “Meine Daten gehören mir“) und die politisch demokratischen Rechte (Kapitel 9: „Parteien öffnen“, „direkte Demokratie stärken“, „Partizipation in Schule und Hochschule“, „Mitbestimmung in Arbeit und Wirtschaft“).

Im Fokus des Programms: Mehr Rechte für den einzelnen Bürger, nicht aber die Bürgergesellschaft.

Das Problem bei den das Programm strukturierenden Schutzforderungen und Freiraumversprechen für den einzelnen Bürger ist, dass im Vergleich zu den entsprechenden ausführlichen Forderungen zweierlei eher an den Rand tritt: Aussagen zur Vielfalt der Bürgergruppen (Vereine, Projekte, NGOs etc.) und ihrer Rolle bei der Stärkung von Bürgerrechten, und zur Rolle der einzelnen Bürger als engagierter Aktivbürger. Daran ändert auch das auf den Seiten 162/63 des Programms konzentrierte Loblied wenig, das dort dem bürgerschaftlichen Engagement gesungen wird.

Wenn man nämlich die einzelnen Programmkapitel mit ihren Problembeschreibungen und Forderungen für Politikbereiche wie Soziales, Bildung, Verbraucherpolitik, Kultur und Hilfen in Kindheit und Alter durchgeht, dann ist dort zu den vielfältigen Beiträgen, Möglichkeiten und Grenzen des aktiven und gemeinschaftlichen Beitrags von Bürgerinnen und Bürgern wenig zu finden. In jedem Bereich gibt es einen ausführlichen Katalog materieller, sozialer oder auch finanzieller Forderungen und für die dort jeweils maßgeblichen Institutionen verspricht man, die Rechte der Beteiligten zu stärken: „In Schulen etwa, in denen wir Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern mehr Mitbestimmungsrechte geben wollen. Oder im Gesundheitssystem, in dem wir eine konsequente Patientenorientierung einführen wollen… Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Pflegebedarf brauchen mehr Souveränität und mehr Gestaltungsmacht“ (S. 85) Solche Ziele sind aber nicht nur zustimmungsfähig sondern auch sehr allgemein. Was heißt „Einbeziehung der Betroffenen“ in der Pflege? Was stärkt „die Position von Patientinnen und Patienten“? Was sorgt für „Räume und Projekte… die von Jugendlichen selbst bestimmt organisiert werden?“ Gemessen an der bisweilen technischen Detailversessenheit bei der Beschreibung sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Ziele bleibt all das in der Regel kurz, schwammig und oft auch recht konventionell.

Wie heißt es im Kulturkapitel? „Wir setzen uns ein für die Öffnung der kulturellen Einrichtungen und ermutigen auch Ehrenamtliche zur Mithilfe bei der Vermittlung von Kunst und Kultur in alle Bereiche der Gesellschaft“ (S. 188) Aber besonders fragwürdig ist, dass hier auf die Bewegungen, Gruppen, Netzwerke und Projekte, die an solchen Entwicklungen seit Jahren arbeiten, kaum Bezug genommen und statt dessen in einer Optik argumentiert wird, wo „wir“ (die grüne Partei) dem einzelnen Bürger etwas zu geben versprechen. Interessanter wäre doch, wie diese Partei mit solchen Akteuren der Bürgergesellschaft zusammenarbeiten will und was sie dabei von der Haltung anderer Parteien unterscheiden soll.

Kurz, blass und unverbindlich ist das Programm zu solchen Fragen in Sachen Bürgergesellschaft auch an anderen Stellen – etwa im Kapitel „Im Osten was Neues“. Hier erfährt man u. a., dass es gilt, „authentische Erinnerungsorte (zu) erhalten“, „Naturschutz (zu) honorieren und naturnahe Entwicklungschancen zu nutzen“. Über die Probleme und Entwicklungschancen von Demokratie, Engagement und Beteiligung und speziell eines lebendigen Vereinswesens speziell in diesem Teil der Bundesrepublik erfährt man darin nichts. Die an und für sich überzeugende Argumentationsperspektive von Bündnis 90/ Die Grünen als einer Bürgerrechtspartei leidet auch hier darunter dass kaum etwas darüber gesagt wird, wie die Partei auf dem Wege zu solchen Zielen die Rolle von Protagonisten der Bürgergesellschaft und ihren eigenen doppelten Bezug - zu ihnen und zur Politik in staatlichen Institutionen - definiert.

Einzelne Bemerkungen, aber kein Konzept zu einer neuen Kultur der Beteiligung

Es gibt in diesem Programm kein Konzept für eine Erneuerung der traditionellen Formen von Beteiligung und Mitbestimmung oder gar für so etwas, wie eine neue Kultur der Beteiligung. Und sieht man einmal von der Forderung nach Öffnung der Parteien und Zurückdrängung des Lobbyismus ab, so gibt es auch kein Konzept für neue Formen des Regierens und Verwaltens. Der einzige diesbezügliche Satz des Programms “Wir setzen auf neue Kooperations- und Organisationsformen und die Entwicklung gemeinsamer Strategien“ (S. 120) wird für keinen einzigen Lebens- und Politikbereich konkretisiert. Dabei zeigt sich heute bei lokalen Netzwerken zur sozialen Stadt, neuen Kooperationsformen von freien Trägern, Initiativen, lokalen Wirtschaftsverbänden und kommunalen Verantwortlichen etwa in der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik, recht plastisch, wie sehr zur Realisierung neuer sozialer Ziele und Rechte auch so etwas wie ein Schub an neuen Kooperations- und Organisationsformen und eine entsprechende zivile Kultur des Engagements gehört. Das Mantra der Ausweitung von Bürgerrechten, das sich durch das grüne Programm zieht, wäre also sehr viel überzeugender, wenn Wege aufgezeigt würden, wie dafür mit vorhandenen Protagonisten zusammengearbeitet und in welcher neuen Kultur von Beteiligung es institutionalisiert werden soll.

Der Programmsatz „Demokratie braucht bürgerschaftliches Engagement“ wird aber nicht nur in Richtung auf Fragen der politischen Beteiligung und der Stellung jener Vereine und NGOs, die für benachteiligte Interessen und innovative Konzepte eintreten, kaum konkretisiert. Es gibt auch in die andere Richtung wenig Aussagen – also in Bezug auf die alltagsnahe Ebene jenes geselligen und verbindenden Engagements, das vom Sportverein über das lokale Bürgerzentrum bis zur Nachbarschaft reicht. Während in Ländern wie England Projekte zum „community building“, zur Belebung und zum Wiederaufbau von Nachbarschaften, Vereinsbildungen und lokaler öffentlicher Räume zur Rückgewinnung vorpolitischer Bedingungen von Demokratie und Teilhabe seit langem auf der politischen Tagesordnung stehen, gibt es hierzu im grünen Programm nur ein paar Einsprengsel. Es reicht nicht, an einer einzigen Stelle des 200-seitigen Programms den Allerweltssatz fallen zu lassen, dass es gilt “die nötige Infrastruktur in den Stadtteilen zu fördern und kleine soziale Netze aufzubauen“ (S. 119).

Das hohe Lied aufs bürgerschaftliche Engagement auf den S. 162/63 des Programms wird also kaum orchestriert – weder in Hinblick auf eine neue Kultur der Beteiligung und des Regierens, noch in Hinblick auf Fragen nach angemessener Förderung zeitgemäßer Formen von Nachbarschaft, Geselligkeit, Integration und alltäglicher Unterstützung.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag mit den Bürgern oder nur Politik für die Bürger?

Über die Gründe dafür, dass im grünen Programm viel von staatlicher Politik und dem einzelnen Bürger und vergleichsweise wenig von den Bürger-Gruppen und ihrer Rolle in einer Bürger-Gesellschaft die Rede ist kann hier nicht ausführlich spekuliert werden. Einer davon ist aber wohl, dass die Partei ihren eigenen Ansatz, nämlich Politik auf „einen neuen Gesellschaftsvertrag“ zu gründen, nicht wirklich zu Ende gedacht hat. Verträge handeln von Rechten, aber auch von Pflichten und zwar nicht nur auf Seiten der staatlichen Politik oder der Wirtschaft, sondern auch auf Seiten der Bürger. Es wird nun aber im grünen Programm nicht weiter thematisiert, dass Engagement auch die Bürger durchaus fordert und hier und da sicher auch als Zumutung an sie verstanden werden kann. Das aber macht einen glaubwürdigen neuen Politikansatz durchaus kompliziert. Aus mehr Rechten, auf die sich die Grünen konzentrieren, folgt nicht ohne weiteres, dass man sie auch dazu nutzt, sich um seinen Stadtteil, die jeweilige Schule, den Zustand des Stadtparks mit zu kümmern. Das Entstehen einer zivilen Kultur geteilter Mitverantwortung ist eine eigene schwierige Sache. Und hier zieht sich durch das Programm der Grünen ein Widerspruch: Einerseits fordern sie einen neuen Vertrag, der ohne Zumutungen und neue Formen mitverantwortlicher Beteiligung von allen Seiten – auch den Bürgern und Wählern – kaum auskommen kann; andererseits formulieren sie ein Programm, das in vieler Hinsicht traditionelle Politikperspektiven bedient: staatliche Politik und mehr grüner Einfluss darin werden es richten.

Das treffende Statement „Ohne input kein output“ aus dem Kapitel „Demokratie wagen“ des grünen Programms darf also ruhig auf dieses selbst angewandt werden. Unterm Strich ist das, was hier zu bürgerschaftlichem Engagement in Hinblick auf Fragen des sozialen Zusammenhalts, der Demokratie, des Regierens und auch der Macht festgestellt und gefordert wird, eigentümlich bescheiden, misst man es an den großen Projekten wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Art, die darin beschrieben werden: „Die Finanzmärkte ergrünen lassen“; “gerechte und ökologische Mobilität“; „grüne Grundsicherung“. Solche und andere revolutionäre Perspektiven zu Wirtschaft, Sozialem und Ökologie brauchen doch wohl auch einen anderen Schub an Engagement, grundlegendere und weiter greifende Perspektiven und Projekte zu Demokratie, Staat und Bürgergesellschaft, als sie in diesem Programm beschrieben werden.

(Beitrag für den BBE-Newsletter 14 vom 8. 7. 2009)